Abituraufgabe
Thema : Auswirkungen der Industrialisierung (Leistungskursniveau)
Aufgabenstellung:
Stellen Sie die erste Phase der Industrialisierung unter dem Aspekt dar, wie sie Gesellschaft und Produktion gleichermaßen veränderte.
Bearbeiten Sie dabei folgende Aufgaben:
- Nennen Sie Voraussetzungen für den Beginn der Industrialisierung in England und Deutschland.
- Untersuchen Sie die Bedeutung der calvinistischen Erwerbsethik und des Wirtschaftsliberalismus für die Industrialisierung.
- Analysieren Sie am deutschen Beispiel die Herausbildung der industriellen Produktionsweise bis 1873 in ihrer Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel.
- Diskutieren Sie die These, dass die Industrialisierung der tiefgreifendste Veränderungsprozess der modernen Welt sei.
Mögliche Lösung:
- Der Prozess der Industrialisierung setzte in Deutschland sehr viel später ein als in England, das auch als "Industriepionier" bezeichnet wird. Der Grund dafür waren die unterschiedlichen Voraussetzungen in den beiden Ländern. In England setzte ab dem 18. Jahrhundert ein starkes Bevölkerungswachstum ein. In 150 Jahren hatte sich die englische Bevölkerung mehr als verdreifacht (5,0 Millionen Einwohner 1701, 16,7 Millionen Einwohner 1851). In der Landwirtschaft wurden stetig weniger Arbeiter benötigt, da als Art der Landwirtschaft bereits die Fruchtwechselwirtschaft betrieben wurde. Aus diesem Grund zogen viele Menschen von dem Land in die Stadt, um dort Arbeit zu finden. Da die Leibeigenschaft bereits abgeschafft war, stand es den Menschen frei ihren Wohnort zu ändern. Es herrschte also ein Überschuss an Arbeitskräften in den Städten. Gesellschaftlich gesehen spielt der Einfluss des Bürgertums auf den Adel, und damit auch auf die konstitutionelle Monarchie, eine große Rolle. Es war für wohlhabende Bürger möglich, in den Adel aufzusteigen und konnten darüber hinaus ihr Geld frei von Vorgaben investieren. Unternehmerische Eigeninitiative wurde sogar rechtlich gefördert. Auch die naturräumlichen Bedingungen begünstigten den Modernisierungsprozess. Bereits im 18. Jahrhundert wurde mit dem Ausbau von Straßen und Wasserwegen begonnen. So konnten die Güter günstig und schnell transportiert werden. Der Bau der ersten Lokomotive durch George Stephenson war der Beginn des Eisenbahnzeitalters. Das englische Schienennetz wurde massiv ausgebaut. Bestand es 1830 noch aus 152 Kilometern Schienen, waren es 1850 bereits 10 653 Kilometer.
Die Erfindung und Verbreitung der Spinnmaschine und des mechanischen Webstuhls, gemeinsam mit der von James Watt erfundenen Dampfmaschine bildeten das Fundament für neue Produktionsformen in England. Durch die Erfindung neuartiger Puddel- und Walzverfahren zur Herstellung von Stabeisen kam es zum Ausbau der Schwerindustrie. Die Mechanisierung der Textilindustrie im Zusammenspiel mit dem Aufschwung anderer Wirtschaftsbereiche ließ die Nachfrage nach Eisen und Kohle stark steigen, da diese Holz als hauptsächlichen Energielieferanten ablösten. So kam es, dass Bergbau, Eisenindustrie und Eisenbahn wirtschaftlich sehr eng verbunden waren. Dieser Wachstumsbereich wird auch als "Führungssektorenkomplex" bezeichnet. Als Gründe für das späte Einsetzen der Industrialisierung in Deutschland gelten die fehlenden wirtschaftlichen Voraussetzungen. Vor allem der sogenannte "Flickenteppich", also die Kleinstaaterei, hatte durch die vielen unterschiedlichen Währungs-, Gewichts- und Maßsysteme und die unterschiedlichen Konfessionen negative Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Außerdem lebte nur ein kleiner Teil der Bevölkerung in Städten und diese Menschen standen als Arbeitskräfte in Fabriken nicht zur Verfügung. Im Jahr 1815 lebten rund 90% der Menschen in deutschen Gebieten in Dörfern mit weniger als 5 000 Einwohnern. 70-80% der landwirtschaftlichen Betriebe produzierten ausschließlich für den Eigenbedarf. Durch die Grund- und Gutsherrschaft waren die Menschen auf dem Land sowohl in ihrer Mobilität eingeschränkt als auch ökonomisch. Erst nach der Gründung des Deutschen Bundes 1815 wurden die Voraussetzungen für die Industrialisierung günstiger. Verantwortlich dafür war hauptsächlich Preußen, dass bereits vorher Edikte zur Bauernbefreiung (1807) und zur Gewerbefreiheit (1810) erließ. Das Zollgesetz von 1818 und das Münzgesetz von 1821, das die Währung vereinheitlichte, wirkten sich ebenfalls günstig aus. Mit der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 war endlich ein einheitlicher Binnenmarkt geschaffen, dem rund 26 Millionen Menschen angehörten. - Sowohl der Wirtschaftsliberalismus als auch die calvinistische Erwerbsethik hatten einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Industrialisierung. Die vom schottischen Ökonomen und Philosophen Adam Smith entwickelte Theorie des Wirtschaftsliberalismus besagt, dass sich die individuelle Freiheit eines Menschen nur entfalten könne, wenn sich der Staat aus weitgehend allen privaten Dingen heraus halte. Das heißt für den Markt, dass sich innerhalb dieses Marktes Angebot und Nachfrage regulieren. Nach Smith werden die verschiedenen Interessen der Akteure auf dem Markt, nämlich der Produzenten (Angebot) und Konsumenten (Nachfrage) zusammen gebracht. Dabei ist das Ziel der Konsumenten, für die Güter einen möglichst geringen Preis zu bezahlen und das der Produzenten, den größten möglichen Gewinn zu erzielen. Smith geht in seiner Theorie von rational handelnden Menschen aus. Diese haben jederzeit einen Überblick über den gesamten Markt und besitzen Zugang zu offenen Märkten. Vor allem aber sollen sie in der Lage sein, ihre Entscheidungen frei zu treffen. Wenn es staatliche Eingriffe gibt, wie sie zum Beispiel im Merkantilismus oder durch Zünfte vorkamen, kann sich der Preis nicht regulieren. Der Staat hat in diesem System die Aufgabe, die Infrastruktur und den militärischen Schutz gegenüber anderen Systemen zu stellen. Generell verteidigt Smith das Produktionssystem der Arbeitsteilung, da diese seiner Auffassung nach ständig zum gesellschaftlichen Wachstum des Reichtums beitrage. Der Wirtschaftsliberalismus schafft also individuelle Freiheiten wie Berufsfreiheit, Konsumentenfreiheit, Gewerbefreiheit und Vertragsfreiheit und unterstützt außerdem das Recht auf Privateigentum. Er bereitet also die Grundlagen für ein kapitalistisches System und damit auch für die Industrialisierung.
Neben dem Wirtschaftsliberalismus hat nach Max Weber (Protestantismusthese) auch der Calvinismus großen Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung in England, aber auch in Holland, der Schweiz und in einigen deutschen Gegenden genommen. Da den calvinistischen Grundsätzen nach Zeitvergeudung als eine der größten Sünden gilt, waren dementsprechend auch zu langes Schlafen und alle Formen von Luxus sündhaft. Es dreht sich im Calvinismus alles um die Nützlichkeit des menschlichen Handelns - und damit auch um den wirtschaftlichen Erfolg. Die Anhänger des Calvinismus sehen in der Arbeit den Selbstzweck des Lebens. Wirtschaftlicher Erfolg als Ergebnis von Fleiß gilt als Zeichen für den Gnadenstand, das heißt, zu den Auserwählten zu gehören, die nach dem Tod in den Himmel kommen. Die Testakte von 1673 verbot neben den Katholiken auch den calvinistischen Puritanern, Quäkern und Baptisten die Arbeit in Staatsämtern und im Parlament. Aus diesem Grund strebten die Mitglieder der betroffenen Glaubensgruppen zunehmend in die Privatwirtschaft. So kam es, dass im 18. Jahrhundert ca. 50% der englischen Kaufleute, Unternehmer und Erfinder Calvinisten waren, obwohl sie eine Minderheit in der englischen Bevölkerung darstellten. Wirtschaftlicher Erfolg auf der einen Seite und das Verbot von Luxus auf der anderen Seite hatte zur Folge, dass viele Calvinisten überschüssiges Kapital anhäuften. Dieses wurde oftmals in technische Entwicklungen und Maschinen investiert, was häufig den wirtschaftlichen Erfolg noch steigerte. Da die Calvinisten darüber hinaus der Auffassung waren, jedes Gemeindemitglied müsse Lesen und Schreiben können, floss auch eine Menge Kapital in das Bildungswesen.
- Die Industrialisierung hatte in Deutschland große Auswirkungen auf die Bevölkerungsstruktur. Zum einen hatte die Urbanisierung, also die Verstädterung, großen Einfluss auf die Lebensweise der Menschen und auf die sozialen Strukturen. Es wanderten immer mehr Menschen in die Städte. Im Jahr 1819 wohnten noch mehr als 90% der Bevölkerung in kleinen Städten und Gemeinden mit nicht mehr als 10 000 Einwohnern. Hundert Jahre später lebten nur noch ca 50% der Bevölkerung auf dem Land. Es entstanden neue Ballungsräume, vor allem im Rhein- Ruhr- Gebiet, in Sachsen, im Saarland, im Rhein- Main- Gebiet, in Berlin und in Frankfurt. Das Leben in der Stadt brachte für die Menschen eine völlig neue Lebensweise mit sich. Einerseits wurde die Individualität der Menschen in den Vordergrund gerückt, da ein Mensch in der Stadt häufig nicht so abhängig von nachbarschaftlichen Beziehungen war wie auf dem Land und er konnte eigenständig seinen Lebensstil bestimmen. Auf der anderen Seite entwickelte sich ein Massenkonsum, der im Stadtbild vor allem durch die neuen großen Kaufhäuser sichtbar wurde.
Der Begriff der "Sozialen Frage" meint die negativen Begleiterscheinungen der Industrialisierung. Viele Arbeiter wohnten rings um die eigentlichen Städte in Industriegebieten in Mietskasernen. Die räumlichen und hygienischen Bedingungen in den Mietskasernen waren oft sehr schlecht. Die Menschen hatten nur wenig Platz zur Verfügung und aufgrund der Enge und der schlechten Ernährung konnten sich Krankheiten wie zum Beispiel die Tuberkulose unter den Arbeitern ungehindert ausbreiten.
Nicht nur die Wohnbedingungen, sondern auch die Arbeitsbedingungen der Industriearbeiter, auch "Proletarier" genannt, waren gemessen an heutigen Standards sehr schlecht. Als normal galten Arbeitszeiten von 12- 16 Stunden, dazu kam ein oft sehr langer Fußweg, den die Arbeiter zurücklegen mussten, um zu ihrer Arbeitsstelle hin und wieder zurück zu gelangen. Für die schwere Arbeit erhielten sie eine sehr geringe Entlohnung, so dass sie im privaten Leben durch Armut und durch Wohnungsnot eingeschränkt waren. Diese geringe Entlohnung führte auch dazu, dass nicht nur die Männer sondern auch viele Kinder und Frauen Arbeit in den Fabriken annehmen mussten, um die Familie zu ernähren. Dabei haben Frauen und Kinder einen viel geringeren Lohn bekommen als die erwachsenen männlichen Arbeiter. Im Jahr 1853 erließ Preußen zwar ein Beschäftigungsverbot für Kinder unter 12 Jahren, es konnte aber leicht umgangen werden und erreichte die vielen Kinder in den Handwerksbetrieben und in der Landwirtschaft nicht. Eine Folge dieser Kinderarbeit ist die lebenslange Benachteiligung bei der sozialen und politischen Teilhabe. Denn bei den harten Arbeitsbedingungen, denen die Kinder ausgesetzt waren, litt ihre Bildung.
Aufgrund der schwierigen Bedingungen für die Fabrikarbeiter formierte sich ab 1863 die Arbeiterbewegung neu. Ferdinand Lassalle gründete den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV), dessen wichtigstes Ziel die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechst für Männer war. Wäre dieses Ziel erreicht, wollte er das eherne Lohngesetz brechen, das sich stets am Existenzminimum orientierte. Eine weitere Arbeiterorganisation wurde 1869 von Karl Liebknecht und August Bebel gegründet, nämlich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Auch sie wollte die rechtliche Gleichstellung der Arbeiter beim Wahlrecht, aber zudem forderte sie Gesetze, die die Arbeiter bei Krankheit, Unfällen und im Alter schützen sollten. Auch die ab 1868 entstandenen Gewerkschaften forderten bessere Arbeitsbedingungen, gerechte Entlohnung und Schutz bei Unfällen und Krankheit für die Arbeiter. Es gab Freie Gewerkschaften, christliche Gewerkschaften und liberale Gewerkschaften, wobei die ersteren bei weitem den größten Einfluss ausübten.
- Die Industrialisierung kann als tiefgreifendster Veränderungsprozess der modernen Welt angesehen werden, da mit der Arbeitsteilung erst die Massenproduktion von Gütern möglich wurde. Der daraus resultierende Gewinn ist die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der sich zur 1. Welt zählenden Industrieländer. Die Struktur der Bevölkerung und der Städte, die wir heutzutage kennen, ist eine Folge der Industrialisierung. Denn durch sie kam es nicht nur zu einer veränderten Produktionsweise, sondern die Begleiterscheinungen griffen nahezu auf alle Lebensbereiche über. Neben der veränderten Arbeit, bei der viele Arbeiter Spezialisten für bestimmte Bereiche waren und nicht mehr ganze Maschinen oder andere Gegenstände herstellten, veränderte sich die Wohnsituation, die Stadtstruktur, das soziale Gefüge der Bevölkerung (es gab plötzlich mit dem Proletariat eine neue Bevölkerungsgruppe) und auch die Umwelt. Es musste Verantwortung für die Arbeiter übernommen werden, was den Grundstein für unser heutiges Sozialsystem legte. Es entstanden Ballungsräume wie beispielsweise das Ruhrgebiet, die auch heute noch existieren. Der Bergbau und die intensive Form der Landwirtschaft veränderten die Landschaft. Auch heute noch sind die Auswirkungen gut zu sehen. Riesige Naturflächen werden für landwirtschaftliche Zwecke genutzt und das Ruhrgebiet liegt in einer Art "Badewanne", da das gesamte Gebiet durch den exzessiven Bergbau stückweise absackt, in den Außenbezirken aber die Halden (Schuttaufhäufungen des Bergbaus) eine Art "Wannenrand" bilden. Außerdem machte die Industrialisierung eine moderne Kriegsführung, wie sie in Europa mit dem Ersten Weltkrieg begann, erst möglich und nahm auch so erheblichen Einfluss auf die Politik und das Leben der Bevölkerung.
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